Privatrösterei Philipp (2018–heute) – ein Ort der Zeitgeschichte
Mit durchnässter Kleidung hetze ich die Bahnhofstraße entlang. Es ist spät. Zu spät, um einen warmen Rastplatz zu finden. Kurz vor der Kreuzung zur Schillerstraße erblicke ich ein altes Fachwerkhaus, durch dessen moderne Glasfront warmes Licht fällt. Ich wechsle die Straßenseite.
Noch bevor ich zu Atem kommen kann, greife ich nach dem Türgriff. Verschlossen.
Erschöpft hebt sich mein Blick. Durch die spiegelnde Glastür blicke ich ins Innere. Links eine Sitzecke mit bestickten Kissen, dahinter schwarzbraune Verkaufsregale. Rechts eine schwarz-goldene Röstmaschine von Giesen, davor eine kleine Kaffeeküche mit modernem Siebträger und Gebäck. Inmitten von hellbraunen, prallgefüllten Jutesäcken steigt warmweißes Lichtaus dem Boden der hintersten Ladenecke auf. Woher kommt es?
Bevor ich eine Antwort auf die Frage finden kann, erscheint eine dunkelhaarige Frau vor der Glastür, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Sie kramt in ihrer Tasche, holt einen Schlüssel heraus und öffnet die Türe.
Der warme Duft von gerösteten Kaffeebohnen steigt in meine Nase.
„Alles in Ordnung?“ fragt sie besorgt.
Langsam bewege ich meinen Kopf auf und ab. Sie schaut mich an und bittet mich herein. Erst bei Betreten des Gebäudes realisiere ich, an welchem Ort ich mich befinde. Es ist die Kaffeerösterei Philipp.
Das Licht kommt vom beleuchteten Brunnen, ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Die nette Frau ist Sandra Philipp, welche die Rösterei nun seit mehr als fünf Jahren zusammen mit ihrem Mann Ralf Philipp führt. Gemeinsam schwelgen sie gerade in der Vergangenheit ihrer Kaffeerösterei. Ich nehme in der Sitzecke Platz und lausche.
Während ich mit einer Tasse Kaffee in der Hand langsam auftaue, erzählen Sandra und Ralf von der ehemaligen Brauerei, die früher im Gebäude der Privatrösterei betrieben wurde.
Brauerei zum Gambrinus – Gastwirtschaft von 1880 bis 1920
Das Gelächter einer Gruppe Männer reißt mich aus dem Schlaf.
Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?
Verschlafen und orientierungslos richte ich mich auf. Mein Rücken schmerzt von den Holzdielen des Bodens, auf dem ich gelegen hatte. Langsam sehe ich mich um.
Rechts von mir etwa zwanzig stattliche Männer zwischen 40 und 60, die auf hölzernen Sitzbänken sitzen und sich über Gott und die Welt unterhalten.
Links von mir ein dunkelbrauner Tresen, dahinter viele dunkle Holzschränke mit Geschirr darin und eine schwere Holztür mit schwarzen Metallstreben.
Von Sandra und Ralf keine Spur. Ich schlendere durch die Reihen. Die Männer amüsieren sich prächtig. Sie trinken Bier, welches in Krügen auf den Tischen steht. Das Gelächter wird lauter. Die Männer kriegen sich kaum mehr ein, bis mit einem lauten Knall eine der Holzbänke mitsamt der darauf sitzenden Männer umkippt. Vor Schreck zucke ich zusammen. Die Männer nehmen es mit Humor. Während sie sich gegenseitig hoch helfen, atme ich erleichtert schmunzelnd auf.
Die ganze Aufregung hat mich durstig gemacht. Ich gehe zum Tresen, um ein Bier zu bestellen, dessen süßlich-malziger Duft sich seit meinem Erwachen mit muffig, modrigem Zigarettenrauch und einem herzhaften Hauch von Leberklößen und Sauerkraut mischt.
Der Gastwirt greift einen grau-beigen Porzellankrug und füllt ihn mit Bier. Er stellt ihn vor mir auf den Tresen und sagt:
„Das macht 15 Pfennig.“. Pfennig? Überrascht schaue ich ihn an. 36 Cent meint er wohl. 36 Cent? Das kann nicht sein. Er nimmt mich auf den Arm. Wo bin ich hier?
Verwirrt blicke ich umher, bis mein Blick am Porzellankrug hängen bleibt. Er trägt die Aufschrift „Zum Gambrinus“.
Gambrinus? Die alte Brauerei und Gastwirtschaft, die einst in den Räumlichkeiten der Privatrösterei Philipp betrieben wurde? Wie ist das möglich? Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe eine junge Frau mit dunkelbraunen Haaren, welche durch die Männergruppe huscht. Sie geht um die Ecke und verschwindet. Entschlossen eile ich ihr hinterher. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor.
„Hee was is mit dem Bier?“, ruft der Gastwirt. Ohne eine Antwort verschwinde ich um die Ecke.
Der große Saal – Theater, Bälle und Veranstaltungen von 1880 bis 2011
Ein dunkler, leicht modrig riechender Gang mit einer alten Holztreppe erwartet mich, als ich um die Ecke biege.
Ich sehe die Stufen hinauf. Von der jungen Frau keine Spur. Begleitet vom Knarzen der Stufen steige ich hoch ins Dachgeschoss, aus dem fröhliche Volksmusik ertönt.
Oben angekommen ein großer Saal. Fünf Meter hohe Decken, zwei große vertikale Holzpfeiler und etliche Stühle und Tische ringsumher, an denen sich Jung und Alt amüsieren. Zu meiner Linken eine Empore mit einem Piano, das eine ältere
Dame spielt. Zu meiner Rechten eine Tanzfläche inmitten der gedeckten Tischgruppen, auf welcher einige Paare fröhlich tanzen.
Die Augen leicht zusammengekniffen schwenke ich meinen Blick durch den Saal. Männer in Gehröcken, die Bier
trinken, Frauen in locker sitzenden Kleidern, die zum Tanz aufgefordert werden.
Doch wo ist die junge Frau von eben? Ich zwänge mich an den Tanzpaaren vorbei auf die andere Seite des Saals.
Drei schmale, fast deckenhohe Fenster mit kurzen roten Stoff-Vorhängen lassen einen Blick in die finstere Nacht zu. Ich schaue aus dem Fenster auf die kaum beleuchtete Straße.
Ist es zu glauben? Da draußen steht sie. Die junge Frau. Sofort laufe ich über die Tanzfläche durch den Saal, an der Empore vorbei zum Treppenabgang und durch eine schwere hölzerne Tür gerade hinaus auf die Straße. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Hektisch blicke ich mich um.
Keine Spur der jungen Frau. Bilde ich mir sie nur ein? Ein schwerer Wassertropfen landet auf meinen Haaren. Ich schaue zum Himmel als es zu schütten beginnt. In Strömen läuft der Regen die Straße hinunter. Rasch laufe ich zurück zur
Tür, doch sie ist verschlossen. Wild klopfe ich dagegen, während sich meine Kleidung mit Wasser vollsaugt.
Ich will erneut an die Tür zu klopfen beginnen, als jemand die Tür aufschließt.
Mit einem lauten Quietschen öffnet sich die Tür. Durch den Türspalt steigt mir ein wohl bekannter Duft in die Nase. Es ist nicht der modrig, muffige Qualm von den Zigarren der schwätzenden Männer, nicht das süßlich-malzige Bier oder
die herzhaft duftenden Leberklöße mit Sauerkraut der Gastwirtschaft, es ist der herbe Duft von frisch gerösteten Kaffeebohnen wie ich ihn nur von einem Ort kenne.
Plötzlich leuchtet es mir ein. Ich bin in d…
„Alles in Ordnung?“, unterbricht eine besorgte Stimme meine Gedanken. Vor lauter Regen im Gesicht erkenne ich nur schwer, dass es sich um die junge Frau handeln muss. Sie schaut mich an und bittet mich herein. Ich wische mir
den Regen aus dem Gesicht und kann es nicht glauben. Vor mir stehen Sandra und Ralf Philipp.
Erleichtert falle ich den beiden um den Hals.
Ich bin wieder in der Privatrösterei Philipp.
Was ein Glück! Aufgeregt erzähle ich den beiden von meinem Abenteuer.
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